VON REGINA GOLDLÜCKE

"Man hat in meiner Situation nur zwei Möglichkeiten", sagt Bogdan Nicula. "Entweder man wirft das Handtuch, oder man macht einfach weiter." Seine Entscheidung fiel sofort nach der Diagnose: "Diese Krankheit bedeutet nicht das Ende der Welt. Es ist eine andere Welt. Aber nicht das Ende." Er wiederholt es wie eine Beschwörungsformel. Den Solotänzer der Deutschen Oper am Rhein ereilte sein schlimmstmögliches Schicksal. Er hat ALS. Die drei Schreckens-Buchstaben stehen für "Amyothrophe Lateralsklerose", eine unheilbare Erkrankung des Nervensystems mit fortschreitendem Schwund der Muskulatur. Er ergreift die Extremitäten, das Gesicht, schließlich die Organe. Bei Bogdan Nicula verläuft ALS mit grausamer Schnelligkeit. Es genügten wenige Wochen, um den 34-Jährigen von der Bühne in den Rollstuhl zu bringen. Seine Arme und Beine sind bereits völlig gelähmt, bisweilen muss er künstlich beatmet werden. "Vor allem nachts, wenn ich liege", berichtet er sachlich. "Es ist nicht die Lunge, die ist gesund. Es liegt an der Muskulatur." 

Beim Reden atmet Bogdan Nicula tief und hastig ein, um die nötige Luft zu bekommen. In seiner Brust steckt eine Magensonde, die ihm das Sprechen noch mehr erschwert. Es erscheint unwirklich, dass der junge Rumäne noch 2014 in Martin Schläpfers Ballett-Uraufführungen "b.19" und "b.20" gefeiert wurde. Er tanzte anspruchsvolle Solo-Partien in der "Großen Fuge" nach Ludwig van Beethovens Musik und in dem komplizierten Geflecht "Deep Field", einer Komposition von Adriana Hölszky. Mit dieser Produktion gastierte die preisgekrönte Düsseldorfer Compagnie im September in Maastricht. "Damals fing es an", erzählt Bogdan Nicula. "Ich spürte, wie meine Kräfte schwächer wurden und welche Mühe mich die gewohnten Bewegungen kosteten. Es war ein schleichender Prozess, den ich zunächst gar nicht realisierte." 

Rasch nahmen die motorischen Defizite zu und erfassten auch seinen Alltag. Er konnte auf einmal keine Flasche mehr öffnen und kein Geschirr  mehr abwaschen. "Damals war mir die ganze Tragweite noch nicht bewusst", erzählt er. Im Dezember waren sich die Ärzte nach zahlreichen Untersuchungen in mehreren Kliniken sicher: Es ist ALS. Jetzt musste der Tänzer der Wahrheit ins Gesicht schauen. "Der Schock war nicht einmal so verheerend, wie man vermuten könnte", sagt er. Gerettet habe ihn sein großes Projekt, das er unbedingt beenden wollte. Bogdan Nicula erarbeitete die Choreographie zur Klavierkomposition "Kriegssonaten" von Sergej Prokofjew. Das Gemeinschaftswerk aus klassischer Musik, bildender Kunst und modernem Ballett wurde am 10. und 11. Januar 2015 im Ärztehaus Düsseldorf aufgeführt.. "Die Proben konnte ich im Sitzen leiten", erzählt er. " Seltsam war nur, dass ich nicht in der Lage war, meine Visionen vorzutanzen. Ich gab sie weiter, die Tänzer nahmen sie mit ihren eigenen Körpern auf. Sie sollten sich so frei und so spontan wie möglich bewegen. Wie sie das machten, war spannend zu beobachten." Die Inszenierung wurde zu einem so großen Triumph, dass sich die Ballettfreunde der Düsseldorfer Oper für eine Wiederholung der "Kriegssonaten" einsetzen.

"Mein Schwanengesang", murmelt Bogdan Nicula und lächelt hinüber zu Helge Freiberg. Ein Tänzer wie er, und sein Lebensgefährte seit 12 Jahren. Beide kamen 2009 mit Martin Schläpfer von Mainz nach Düsseldorf. Helge Freiberg ging später nach Frankreich und gehört jetzt dem Ballett der Osloer Oper an. Seinen Vertrag setzte er im Herbst ohne Zögern aus, um seinen Partner zu pflegen. Rund um die Uhr, mit beeindruckender Selbstverständlichkeit und liebevoller Zuwendung. "Man wächst rein", sagt Helge Freiberg schlicht. "Ohne ihn ginge es nicht", ergänzt Bogdan. Auch für seinen Freund, der als Tänzer bei "Kriegssonaten" mitwirkte, war die Premiere mit besonderen Emotionen aufgeladen. "An diesem Tag saß Bogdan zum ersten Mal im Rollstuhl", erzählt Helge Freiberg. "Davor habe ich ihn immer huckepack getragen." Im Solinger Krankenhaus Bethanien, wo Bogdan Nicula die vergangenen Wochen verbrachte, ließ er sich in die Pflege des Patienten und den Umgang mit dem Beatmungsgerät einweisen. In dieser Fachklinik für Lungenkrankheiten findet auch das Gespräch mit "Welt am Sonntag" statt. Bogdan fühlte sich dort geborgen: "Ein Haus mit guter Energie. Man hat mich unglaublich toll versorgt. Schön, dass es Menschen gibt, die mitten im größten Leid nur hilfsbereit und herzlich sind. Man fühlt sich unterstützt. Und auf bestimmte Weise nicht einmal krank." 

Bogdans Mutter ist aus Rumänien gekommen, um ihrem Sohn nahe zu sein. Behutsam füttert sie ihn mit Gelée Royal, das ihn stärken soll, reicht ihm mundgerechte Stücke ihres selbstgebackenen Kuchens. Tapfer schluckt sie ihre Tränen hinunter, versucht ihre Verzweiflung vor ihm zu verbergen. Weil er das nicht gut erträgt und ihr nur ein trotziges "es ist, wie es ist" entgegen hält. "Da kann Bogdan sehr stur sein", sagt Helge Freiberg. "Er möchte kein Mitleid. Für seine Mitmenschen ist das oft hart." Er sei keinesfalls depressiv wegen seines Leidens, beteuert der Tänzer. "So bin ich nicht veranlagt. Für mich war das Glas immer halb voll. Das gilt bis heute." Und wenn ein solcher, sehr seltener  Moment doch einmal kommt, ist Helge Freiberg fast erleichtert: "Alles andere wäre übermenschlich." 

Vor wenigen Tagen wurde Bogdan Nicula aus dem Krankenhaus entlassen. Die Freunde bezogen eine ebenerdige Wohnung, die rollstuhlgerecht eingerichtet ist. Wie geht es nun weiter? Die Medizin hat kein Mittel gegen ALS aufzubieten. Physio- und Ergotherapie können die Beschwerden allenfalls mildern. Bisher wusste niemand außerhalb der Oper von Bogdans Schicksal. Es nun öffentlich zu machen, war sein eigener Wunsch. "Ich möchte keinesfalls ein Poster Boy sein", stellt er klar. "Die Leute sollen lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, was jedem von uns aus heiterem Himmel passieren kann. Vielleicht hilft meine offensiven Art, mit der Krankheit umzugehen, anderen Betroffenen." Für einen Tänzer muss die Unfähigkeit, sich zu bewegen, besonders qualvoll sein. Vermutet man jedenfalls. Helge Freiberg glaubt das nicht. "Wie viel Körper braucht ein Mensch zum Leben?" fragt er. "Bogdan ist immer noch Bogdan. Seine Seele hat sich nicht verändert." Nur das Planen gab er auf. "Für uns zählt allein das Heute", sagt Bogdan Nicula. "Dieser eine Tag soll so schön wie möglich sein." Seine Augen leuchten auf. "Immerhin - ich lebe. Und das ist besser als nichts."