EIN FASZINIERENDES GESAMTKUNSTWERK

 

Diese Choreographie war schon aufgrund ihrer Länge ein „Großprojekt”: über eine Stunde hat Bogdan Nicula mit Bewegungsabläufen gefüllt, die zusätzlich einen besonders hohen Schwierigkeitsgrad hatten, weil die Basis gebende Musik nicht in unterschiedlichen Sätzen motivisch und atmosphärisch gegliedert war, sondern die einzelnen Kriegssonaten von Prokofjew vergleichsweise fragmentarisch und unzusammenhängend ihren jeweils eigenen Charakter tragen. Schon der Komponist, Prokofjew selbst, hat, so der Eindruck, die Frage wie Krieg musikalisch darstellbar sein könnte, nicht wirklich beantwortet. Umso schwieriger dieselbe Frage für die Choreographie.

 

Und dennoch hatte sie einen erkennbaren Zusammenhang: sicher kann insgesamt von einer Choreographie der Unruhe, ja auch der Plötzlichkeit gesprochen werden. Jäh von einem Moment zum anderen ließ Nicula seine drei Tänzer wiederholt rasend schnell von einem Ende des Saales zum anderen laufen. Auch Bewegungselemente des Fallens, des wie tot Daliegens, des Stürzens und des Stützens und Gestütztwerdens wiederholten sich leitmotivisch. Besonders aber fiel eine Enge und körperliche Nähe auf, in der die Körper sich ineinander verhakten, verknoteten, ja geradezu miteinander rangen: Ver- und Umwicklungen, Ein- und Auswicklungen ganz eigener Art. Als hätte sie ein janusköpfiger Gott zugleich mit dem Bann der Erotik und mit dem Fluch des Kampfes zusammengeschmolzen, um- und verschlungene Bewegungen, von denen ununterscheidbar war, ob sie dem erotischen Liebesspiel oder der vernichtenden Kampfeslogik entsprangen. Diese augenscheinliche Ähnlichkeit zwischen Liebesspiel und Kampfeslogik ist eine Idee, die nicht nur die Musik an Erkenntnis übertraf, sondern auch überaus denkwürdig und bedenkenswert ist.

 

Auch wenn sie mit der tatsächlichen Geschichte der Körper schon im Ersten Weltkrieg und umso weniger noch im Zweiten zu tun hat – denn in beiden Weltkriegen war der menschliche, besonders der männliche Körper entweder Maschinengewehrfutter oder umgekehrt automatisierte Kampfmaschine, in beiden Fällen aber verdinglichtes anonymisiertes Objekt – gibt diese Idee sozusagen auf tiefer gelegter Ebene zu denken: gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen der Lust der erotischen Bewegung und der Qual der Kampfeslogik? Ist, erweitert gesprochen, die Nähe von Eros und Thanatos Wirklichkeit oder nur eine Augentäuschung? Und wenn sie wirklich ist, woher sollte sie bloß kommen? worin ihren Ursprung haben? Sind doch in Wahrheit mit dem Lust und Leben gebenden Eros und dem Verderben und Tod bringenden Kampf geradezu zwei entgegen gesetzte Pole menschlicher Existenz bezeichnet.  

 

Zweifellos ist es eine Erkenntnisleistung für sich, dass die Choreographie von Bogdan Nicula all diese Fragen aufruft. Sie wäre aber zu leicht gewogen, wäre das schon alles. Ja, diese Choreographie trifft eine Entscheidung, die nicht minder bedenkenswert ist: die Entscheidung für eine Täuschung und damit eine Entscheidung für den Unterschied, für den Unterschied zwischen Eros und Thanatos: indem sich die Körper immer wieder gegenseitig auffangen, stützen und Halt geben, formuliert sie ein klares Plädoyer: das Plädoyer gegen den todbringenden Kampf und für die sorgende, die liebende Begegnung. Eine deutliche und eine schöne, tröstende Entscheidung zugleich angesichts der „Kriegssonaten“.   

 

   

Frauke Tomczak, Düsseldorf, 17.01.2015

www.drfrauketomczak.jimdo.com